Die Frau an der Spitze
Sie war die erste und ist bis heute die einzige Frau an der Spitze der Stadtverordnetenversammlung seit 1908: Birgit Müller, Ingenieurin für Elektrotechnik, Modemacherin und Wahl-Potsdamerin. 1979 der Liebe wegen nach Potsdam gezogen, ist die heute 66-jährige Kommunalpolitikerin die erste Repräsentantin der Landeshauptstadt.
Ihr Arbeitsplatz im Rathaus ist der Plenarsaal. Seit 1990 sitzt die Linke-Politikerin ehrenamtlich in der Stadtverordnetenversammlung und ist damit eine der wenigen, die seit der Wende immer wiedergewählt wurden. Anfangs sei es Neugier, die Lust auf Veränderung, die neue Freiheit gewesen, die sie zu einer Kandidatur motiviert hätten. Die Lust an der Mitbestimmung, der Gestaltung der Landeshauptstadt hat sie bis heute in sich. 20 bis 25 Stunden pro Woche nimmt ihre ehrenamtliche Arbeit in Anspruch. Dabei geht es für sie nicht nur um die Leitung der monatlich tagenden Stadtverordnetenversammlung, sondern um die Präsenz in der Öffentlichkeit als oberste Vertreterin der Bürgerversammlung.
Viermal wurde sie zu deren Vorsitzenden gewählt: 1994, 1998, 2003 und 2014. „Meine Fraktion war in die Vorbereitung der Sitzung nicht eingebunden und keiner, nicht einmal ich, hatte mit meiner Wahl gerechnet“, sagt Birgit Müller über die Wahl im Januar 1994. „Die Stille nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses wird mir immer in Erinnerung bleiben.“ Auch an ihre erste Amtshandlung kann sie sich gut erinnern: Es war eine Auszeit der Sitzung.
In der Tat war es ungewöhnlich, dass vier Jahre nach der Wende eine Linke auch aus dem bürgerlichen und sozialdemokratischen Lager zur Vorsitzenden gewählt wurde. Inzwischen wundert es niemanden mehr. Sie ist fraktionsübergreifend anerkannt, agiert überparteilich. Ist das leicht? „Ich glaube, dass meine Eltern mir ein gutes Rüstzeug mit auf den Weg gegeben haben. Sie haben meine Geschwister und mich angehalten, immer alle Meinungen anzuhören, sie ernst zu nehmen und mich danach damit auseinander zu setzen“, so Birgit Müller. Das hat sie auch an ihre Kinder weitergeben. Birgit Müller ist Mutter zweier Söhne und inzwischen Oma von vier Enkeln. Jahrelang hat sie im EDVBereich gearbeitet, nach ihrer Pensionierung wollte sie etwas Neues kennenlernen. Daher hat sie sich selbstständig gemacht und nochmals die Schulbank gedrückt, um als Modemacherin eigene Kleidung kreieren zu können.
Die Landeshauptstadt hat in den vergangenen Jahren eine rasante Entwicklung genommen. Wichtige Weichen haben dabei auch die Stadtverordneten gestellt. Müller nennt die Rekommunalisierung des Wasserbetriebes als denkwürdige Sitzung und die Stadtverordnetenversammlung, in der nach Jahren des Streits über den Theaterneubau entschieden wurde. Inzwischen hat sie ein gutes Gefühl, wie eine Sitzung ablaufen wird: „Einen Vorgeschmack gibt es, wenn am Vorabend der Ältestenrat tagt. Danach weiß ich, was am nächsten Tag abläuft.“ Bis zum Ende der Wahlperiode möchte sie noch Vorsitzende sein. Was danach kommt, bleibt offen.
Der Text erschien im Rathaus Fenster 6/2015.